Update: Vergessene Instinkte (2) - 26.08.2025
Stand: 08.09.2025

Angst als Signal

Angst ist einer der ältesten Begleiter des Menschen. Sie war nicht als Strafe gedacht, sondern als Signal. Ein kurzer Schreck, ein Herzschlag schneller, eine gespannte Aufmerksamkeit – all das warnte den Körper, wenn Gefahr nahte. Doch in der heutigen Gesellschaft ist Angst zur Dauerbelastung geworden. Statt uns in einzelnen Momenten zu retten, zerfrisst sie Menschen in ihrem Alltag. Damit ist der ursprüngliche Sinn verloren gegangen: Angst sollte schützen, nicht lähmen.

Früher bedeutete Angst, im Wald eine Bewegung zu hören oder im Dunkeln die Augen eines Raubtiers zu sehen. Heute sind es Rechnungen, Termine, Erwartungen anderer Menschen. Doch der Körper kennt keinen Unterschied: Herzrasen bleibt Herzrasen, Schweiß bleibt Schweiß. Nur das Raubtier ist nicht mehr da – und so bleibt der Mensch in einem Zustand ständiger innerer Flucht, ohne je anzukommen. Der Instinkt wird hier nicht genutzt, sondern missbraucht.

Schmerz als Warnsystem

Der Schmerz verhält sich ähnlich. Auch er war ein Signal, ein wichtiges Warnsystem, das Leben rettete. Schmerz bedeutete: hier stimmt etwas nicht, ändere dein Verhalten. Ein Schnitt, ein Schlag, eine Verbrennung – all das bewahrte vor größeren Schäden. Doch die moderne Welt hat Schmerz in ein Feindbild verwandelt. Er wird nicht mehr verstanden, sondern sofort betäubt. Tabletten, Ablenkung, Verdrängung. Der Körper aber vergisst nichts. Jeder unterdrückte Schmerz bleibt als Spur im Inneren, und oft kommt er später zurück, verwandelt in Krankheit oder innere Zerrissenheit.

Besonders deutlich wird das beim seelischen Schmerz. Ein Verlust, eine Zurückweisung, ein gebrochenes Versprechen – das alles trifft den Menschen nicht zufällig, sondern zeigt, wie tief Verbundenheit und Vertrauen in seiner Natur verankert sind. Doch statt daraus zu lernen, wird auch hier verdrängt. Man soll „stark sein“, Gefühle nicht zeigen, funktionieren. Dabei wäre gerade dieser Instinkt ein Schlüssel: Schmerz führt zur Erkenntnis, dass etwas nicht stimmt, und zwingt uns zur Veränderung.

Selbsterhalt als Instinkt

Der Selbsterhalt ist der dritte große Instinkt, den der Mensch zunehmend verdrängt. Ursprünglich bedeutete er, Gefahren auszuweichen, Nahrung zu sichern, sich zu schützen. Heute wird er in vielen Fällen ins Gegenteil verkehrt. Menschen rauchen, trinken, hetzen sich kaputt – und nennen es Freiheit. Sie wissen um die Zerstörung, doch handeln dagegen. Es ist, als hätte man den Instinkt überlagert mit künstlichen Bildern von Genuss und Erfolg, die den eigentlichen Schutzmechanismus überschreiben.

Ein Tier würde niemals bewusst etwas tun, das es langsam zerstört. Kein Vogel frisst täglich Gift, kein Hirsch läuft freiwillig ins Feuer. Nur der Mensch setzt sich über seinen Instinkt hinweg – und hält das noch für Fortschritt. Dabei wäre Selbsterhalt nichts anderes als die Erinnerung daran, dass das eigene Leben kostbar ist. Stattdessen wird dieser Impuls verspottet. „Man lebt nur einmal“ heißt es, und dieses eine Leben wird dann verschwendet.

Hier zeigt sich der eigentliche Bruch zwischen Mensch und Natur: Die Grundinstinkte – Angst, Schmerz, Selbsterhalt – sind nicht verschwunden, sie werden ignoriert, falsch eingesetzt oder gar ins Gegenteil verkehrt. Angst lähmt statt zu retten, Schmerz wird betäubt statt verstanden, Selbsterhalt wird verspottet statt gelebt. Dadurch wird der Mensch verletzbar, manipulierbar und abhängig von Strukturen, die ihn lenken. Der Verlust der Instinkte bedeutet nicht Freiheit, sondern Fessel.

Und dennoch: Diese Kräfte sind nicht endgültig verloren. Sie liegen unter Schichten von Gewohnheit, Ablenkung und gesellschaftlichem Druck. Wer bewusst hinhört, spürt noch das Echo: ein Zucken bei Gefahr, ein Schmerz, der mahnt, ein Impuls, sich zu schützen. Diese Echos sind die Spuren unserer Natur, die noch da sind – und die zurückgeholt werden können. Die Frage ist nur, ob der Mensch den Mut hat, wieder auf sie zu hören.

Weiter in Teil 3

Hinweis: Nahrung, Sexualtrieb und Gemeinschaft als Kerninstinkte.